Der grüne Heinrich
Schon in den 1840er Jahren fasst Keller laut einem Bekenntnis von 1876/77 den Vorsatz, «einen traurigen kleinen Roman zu schreiben über den tragischen Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn, an welcher Mutter und Sohn zu Grunde» gehen. Dieser autobiographisch grundierte Roman wächst sich in den Berliner Jahren immer weiter aus zu einem Künstlerroman, dessen Schluss Keller im April 1855 «buchstäblich unter Tränen geschmiert» haben will.
Der grüne Heinrich bricht als junger Mann aus seiner Heimatstadt auf, um sich in einer «Kunststadt» zum Landschaftsmaler ausbilden zu lassen. Kaum in dieser angekommen, wird in einem grossen Einschub seine Jugendgeschichte in Ich-Form erzählt. Sie berichtet vom Aufwachsen des Knaben, dessen Vater früh gestorben ist, in der Obhut der fürsorglichen, aber sparsamen Mutter. Seine Phantasie begnügt sich nicht mit der beschränkten buchstabengetreuen Religion und einem noch in den Anfängen steckenden Schulsystem, sondern sucht im Theaterspiel, in weitschweifenden Leseabenteuern und in ungeschickten künstlerischen Versuchen ihren angemessenen Ausdruck. Wegen eines ihm unterschobenen disziplinarischen Vergehens wird der Knabe von der Schule gewiesen. Zu Besuch im ländlichen Heimatdorf seines Vaters blüht er auf und fasst den Entschluss, Landschaftsmaler werden zu wollen. Sein Herz schwankt zwischen der ätherischen Anna, die an Schwindsucht erkrankt und stirbt, und der sinnlichen Judith, die am Ende der Jugendgeschichte nach Amerika auswandert. Nun kehrt der Roman wieder zu dem jungen Maleradepten zurück, dessen Hoffnungen auf eine solide Ausbildung in der Kunststadt nicht erfüllt werden. Als seine Mittel erschöpft sind, tritt er endlich die Rückreise an, wird aber im Hause des Grafen aufgenommen, den er schon auf der Hinreise in die Kunststadt kennengelernt hatte. Dieser stellt sich als Käufer aller Bilder heraus, die Heinrich in seiner Not einem Trödler verhökern musste. Er führt ihn auch in die Denkweise eines aufgeklärten Atheismus ein, zusammen mit seiner Tochter, in die sich Heinrich hoffnungslos verliebt. Als er schliesslich doch mit einem gewissen Vermögen in die Heimat zurückkehrt, trifft er dort gerade ein, als seine Mutter begraben wird. Da er sich die Schuld an ihrem Tod gibt, stirbt er ihr nach. An seinen Verleger Vieweg schrieb Keller am 3.
Mai 1850: «Die Moral meines Buches ist: dass derjenige, dem es nicht gelingt, die Verhältnisse seiner Person und seiner Familie im Gleichgewicht zu erhalten, auch unbefähigt sei, im staatlichen Leben eine wirksame und ehrenvolle Stellung einzunehmen.»
Mit diesem rigorosen Schluss waren viele Kritiker nicht zufrieden, und Keller war es auch nicht. Er beklagte, er habe unter dem grossen Produktionsdruck dem Roman nicht die adäquate Form und Sprache geben können. So trug er sich mit dem Gedanken einer Neufassung, die er schliesslich nach seinem Rücktritt als Staatsschreiber 1876 an die Hand nahm. Diese zweite Fassung unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der ersten. Nun wird der ganze Roman in Er-Form erzählt, dieser beginnt chronologisch klar mit der Jugendgeschichte, und Heinrich findet am Ende trotz des Todes seiner Mutter eine ehrenvolle Stelle als Amtmann in seiner Heimat; ein spätes Liebesglück verbindet ihn mit Judith, die aus Amerika zurückgekehrt ist. Als zu lang empfundene Passagen werden gekürzt, dafür fügt Keller neue Binnengeschichten wie die Erzählung vom Schädel des Albertus Zwiehan ein, um Motive zu verdeutlichen, die in der ersten Fassung nicht genügend ausgeführt wurden. Jedes Kapitel erhält in der Zweitfassung einen Titel, so dass sich die Leserinnen und Leser anhand eines Inhaltsverzeichnisses einen besseren Überblick verschaffen können.